Leseprobe


Leseprobe aus: Irmela Mukurarinda, Splitter
Kurzgeschichten, Hardcover (Fadenheftung, Lesebändchen), 144 Seiten, 12,5 × 20,5 cm, ca. 250 g, Husum 2016, ihleo verlag, ISBN 978-3-940926-57-9, Preis 14,95 €

Ein Hauch von Uralt-Lavendel

„Willkommen in St.Peter – Ording zum Rhetorik – Seminar.“ Ove Hansen, schmalhüftig, leicht ergraut, im schwarzen Pullover und gleichfarbigen Jeans lehnt lässig am Tisch. Sein einladender Blick umfasst die Seminarteilnehmer – ein Mann, acht Frauen.
„Rhetorik,“ so sagt er, „ Rhetorik, die Kunst der freien und gekonnten Rede. Man kann das lernen und dann heißt es für Sie, üben, üben, üben. Nebenbei wollen wir das Meer mit seiner Schönheit und auch seinen Gefahren erkunden. Sie alle kennen den Spruch „Nordsee ist Mordsee“, abends wollen wir die Kneipen vor Ort genießen und uns ein wenig kennen lernen. Mit dem ersten Kennenlernen beginnen wir. Ich mach mal den Anfang.“
Er lächelt in die Runde: „Dr. Ove Hansen, 48, unverbandelt, Rhetoriker an der Uni Flensburg. Bitte“, er schaut auf das erste Namensschild am linken Tisch, „Yvonne Schneider, würden Sie bitte weitermachen?“
Der Tag verläuft, wie eben ein Seminartag zu verlaufen hat und für den Abend hat Ove Hansen in die gemütliche Kneipe „Zum Wattwurm“ eingeladen.

Kurz nach Mitternacht war’s, als er ins Hotelzimmer zurückkehrt.
Irgendwie werden die Abende immer anstrengender, so sein Gedanken. Acht Frauen wollen unterhalten sein! Der einzige Mann war gar nicht erst gekommen.
Er hätte seine Frau nach St. Peter mitgebracht, hatte der sich lachend entschuldigt. Sie wolle lieber einen Spaziergang am Meer machen.
So hat Ole Hansen mit den Frauen im alten „Wattwurm“ gesessen, Frauen, die unentwegt lachten, erzählten und einen Cocktail nach dem anderen ausprobierten.
Im Laufe des Abends rückte ihm die blondgesträhnte Marlene immer näher, von der anderen Seite lächelte ihn Heike herausfordernd an.
Hansen hörte sich reden, lachen, wusste genau um sein Image bei Frauen im mittleren Alter.
Doch als Marlene sich wie unabsichtlich an ihn lehnte, ihre Zimmernummer flüsterte, konzentrierte sich Hansen auf seinen Rückzug.
Nein, seit damals…seit damals konnte er nicht mehr so leichthin, so aus dem augenblicklichen Gefühl heraus, so ohne nachzudenken. Nein, das brachte er nicht mehr fertig.
Müde lehnt er sich gegen das Waschbecken.
Wie jeden Abend betastet er sein Gesicht, betrachtet aufmerksam jede Falte. Ein noch so kleiner Pickel wächst in seinen Gedanken zu einer Geschwulst.
Noch weiß niemand, was er an tödlicher Waffe in sich trägt!
Wann würde der Virus zuschlagen?
Er greift nach seinem ledernen Badbeutel mit den für ihn so lebensnotwendigen Medikamenten.
Ein Griff ins Leere.
Verdammt, ich habe ihn hierher gestellt. Das Hotelpersonal weiß doch, dass sie hier im Bad nichts anzurühren haben.
Hansen stürzt ins Zimmer, reißt die Schranktüren auf, suchte…
Nichts!
Er schließt die Augen, versucht sich an jeden Schritt, an jede Geste zu erinnern, wie er den Koffer auspackte, sorgsam wie immer den verschließbaren Lederbeutel an den Haken rechts vom Waschbecken hängt.
Die geschlossenen Augen schärften seine Sinne.
Da lag doch etwas in der Luft.
Dieser Geruch, verdammt, den kenne ich, altmodisch, aber irgendwie vertraut. Es riecht nach einer Frau.
Langsam öffnet er die Augen.
Da, der lederne Medikamentenbeutel, weit geöffnet auf dem winzigen Hotelschreibtisch. Das Zahlenschloss …geknackt.
Auf seinen Medikamenten drapiert eine rote Schleife – die Aidsschleife. Er hasste sie, würde sie nie tragen. Nie, niemals sollte es jemand erfahren, dass er den Virus in sich trägt.
Wer ist in sein Zimmer eingedrungen, woher diese verdammte Schleife.
Sie ist aus einfachem rotem Papier geschnitten, riecht schwer, süßlich. Der Geruch machte sich im Hotelzimmer breit.
Er reißt das Fenster auf. Schaut in die Dunkelheit. Bis auf den Wind schläft St. Peter.
Wer, wer weiß hier von seinem Geheimnis?

Irgendwann so gegen drei Uhr muss er endlich eingeschlafen sein.
Doch dann… ein leises Klirren, Knarren. Er schreckt aus dem Tiefschlaf hoch. Ein schmaler Lichtstreifen von den nicht ganz dicht gezogenen Gardinen lässt einen Schatten in der Nähe des Schreibtischs erahnen.
„Halt, was wollen Sie“, hört Ole Hansen sich rufen, dann ein Hüsteln, diffuses Nacht-Licht vom Hotelkorridor, die Tür klappt.
Stille!
Auf dem Schreibtisch ein Zettel, rot, wie die Aidsschleife, und in tiefschwarzen großen Buchstaben ist zu lesen „Nordsee ist Mordsee“.
Und wieder dieser Geruch im Raum.
Mit geschlossenen Augen versucht er sich zu konzentrieren.
Was ist das für ein Parfüm?
Ja, Uralt-Lavendel. Dieses altmodische Parfüm, das seine Großtante Hermine so liebte. Wie hatte er damals gelacht, denn dieser Duft passte nicht zu Claudia.
Claudia!
Diese kleine dunkelhaarige, grazile Person mit dem hellen Lachen und einem Funkeln in den Augen, das ihn ganz schwindelig machte, ihn zum ersten Mal den Virus vergessen ließ,
Damals, auch St. Peter, auch Rhetorik und dann diese Nacht am Meer, nackt gebadet, sie lagen in den Dünen auf der Sandbank, sonst nichts dabei, nur …nur der Duft von Uralt-Lavendel und sein Virus, der ihm ins Gehirn hämmerte: HIV positiv. Was bitte ist daran positiv!
Nie wieder einfach so, hatte sich Ole danach geschworen, nie wieder!
Claudia! Ach, es ist doch keineswegs gesagt, dass man sich gleich ansteckt.
Claudia? Nach so vielen Jahren hier in St. Peter, genau jetzt? Zufall?
Der nächste Tag erfordert seine ganze Kraft, sich auf Rhetorikübungen zu konzentrieren. Immer wieder prüft er die Gesichter der vor ihm sitzenden Frauen.
Nein, keine Claudia, auch wenn er die Gesichter so um 12/13 Jahre altern lässt.

Für den Abend wollen die Frauen in die Dünentherme. Ole Hansen verabredet sich mit seinem einzig männlichen Seminarteilnehmer Klaus zum Joggen. Laufen, an nichts denken und diesen verdammten Geruch von Uralt-Lavendel aus der Nase und das Gedankenkarussell aus dem Gehirn verbannen.
Sie treffen sich bei Gosch vor der Brücke. „Noch ebbt es“, sagt Klaus, „wir können über die Sandbank joggen“.
„Also los.“
Es ist ruhig. Kein Wind, das Meer weit draußen, nur ihre Schritte auf dem Holz, das gleichmäßige Atmen.
Es dunkelt. Da, rechts, an einer Stelle an der Brücke, das Licht vom Leuchtturm Westerhever und von links der gleichmäßige Schein vom Böhler Turm.
Beruhigendes Licht, Rettungssignale aus vergangener Zeit.
An der Arche vorbei, lautlos durch den Sand, schräg hinüber zur Sandbank.
„Verdammt“, ruft Klaus, „es wird ja ganz nebelig.“
„ Seenebel“, schreit Ole Hansen zurück, „noch ist Ebbe, da kann nicht viel passieren. Der Nebel verzieht sich schnell wieder.“
„Sie kennen sich hier aus?“
„Ja, es ist nicht mein erstes Seminar in St. Peter. Die Sandbank hat es mir schon immer angetan.“
Immer dichter waberte der Nebel, schwer und feucht die Luft, hastiges Atmen, das Rauschen des Meeres.
Ole verlangsamt sein Laufen, stoppt, dehnte und streckte sich.
„Heh, Klaus, wo sind Sie? Man sieht nix mehr.“ Ein nackter Arm, eine Hand mit einer Wasserflasche durchbrechen die Nebelwand. “Hier Ole“ trinken Sie und dann schnell zur Brücke zurück.“ Ole setzt hastig die Flasche an. Ein paar Schlucke reichen ihm.
„So, 180 Grad drehen und gleiche Tour zurück.“
Dieser verdammte Nebel, denkt Ole, ich sehe nix und was ist plötzlich mit meinem Kopf, mit meinen Beinen.“
Nach wenigen Schritten, er torkelte, stolperte, fällt zu Boden.
„Klaus, wo sind Sie? Klaus!“
Er versucht sich aufzurichten, auf allen Vieren vorwärts zu kommen.
Seine Hände, die Füße schon vom Wasser überspült. Die Arme knicken ein, sein Gesicht klatscht ins Wasser. Salzige See als dünne Schicht über seinem Körper.
Ole Hansen fühlt, wie er umgedreht wird. Eine Frauenstimme dicht über ihm: „So, du Dreckskerl, verrecke, so wie ich in ein paar Wochen an dem verdammten Aids verrecken werde.“
Jemand nestelt an seiner Joggingjacke.
„Hier, die rote Schleife. Wenigstens im Tod willst du doch ehrlich sein, oder?“
Die leise Stimme von Klaus: „Schnell Claudia, die Flut kommt, schnell, zum Glück hat sich der Nebel verzogen.
Stille. Nur das sanfte Gleiten des Meeres über dem ruhig liegenden Körper, ein Sternenhimmel, wie es ihn nur in St.Peter gibt und über allem ein Hauch von Uralt-Lavendel.

Leseprobe aus: Irmela Mukurarinda, Wendeschleife. Im Tal derer von Brühl, Notschriften Verlag, Radebeul 2008, 392 Seiten, 14,90 €.

Toten-Karl

Das Graue Haus an der Kirche lag genau in der Mitte des lang gezogenen Straßendorfes am Tal. Haus, Kirchhof und die Kirche mit abblätterndem Putz und schiefergedeckter Turmhaube waren von einer breiten Feldsteinmauer umgeben. Das laute Kratschen des schmiedeeisernen Tores kündigte frühzeitig jeden Besucher an, auch die fürs Graue Haus.

Der Kirchhof war Ulrikes Spielplatz und Quelle verbotener Freuden. Auf den ausgetretenen Sandwegen spielte sie Himmelhopse und lies ihre Murmeln kullern; der hochstämmige Flieder vom Altbauer Kosche und der Stein seines Grabnachbarn hielten ihr Gummiband zum Hüpfen und aus dem Bodenkammerfenster des Grauen Hauses übte sie im Winter Weitwurfspucken über die Gräber mit den Kernen der hier oben gelagerten Dörrpflaumen.

Die Mutter schickte sie allabendlich beim Dunkelwerden mit der Milchkanne zur Nachbarbäuerin. Über die Straße konnte sie mit der Kanne nicht gehen. Man durfte sich nicht erwischen lassen, denn privater Milchverkauf war plötzlich auf Geheiß von ganz oben verboten. So blieb Ulrike nur der Weg über den Kirchhof. Keiner der neuen Mächtigen hätte sich getraut, abends den Kirchhof zu betreten.

„Wer keinen Glauben hat, frönt dem Aberglauben und Aberglaube macht Angst“, meinte kurz die Mutter auf Ulrikes Anfrage und drückte ihr Kanne und Geld in die Hand.

So hüpfte das Mädchen jeden Abend zum verbotenen Milchholen, vorbei am blumen-geschmückten Bauer Knappe und seiner Frau, die laut in Stein gemeißelter Zahlen und Buchstaben zwar geboren, aber noch nicht gestorben war und statt unter ihrem Namen zu ruhen, im Oberdorf wohnte, weiter links die alte Frau König und die Dorfschneiderin mit ihrem Sohn Alfred. Mit Alfred war das so eine Sache. Er stand da, aber er lag nicht bei seiner Mutter, sondern in Russland im Mist, im Dreck. Mühsam hatte Ulrike buchstabiert: „Vermisst in Russland.“ Das Grab war mit Blumen bedacht, doch die feste Efeuumrandung deutete darauf hin, dass keiner im Dorf gewillt war, der anhanglosen Flüchtlingsfrau aus dem Schlesischen das Grab zu pflegen.

Hatte Ulrike die von Heckenrosen und wildem Wein umwucherte Pforte zur Hofbäuerin erreicht, schaute sie neugierig zu den drei Gräbern dicht an der Kirchhofsmauer.

Die Selbstmörderecke!

Kaum ein Sonnenstrahl schaffte es bis dorthin. Es roch dumpf, moderig. „Aufgehängt“, sagte ihr Freund, der Totengräber Karl, im Dorf nur Toten-Karl genannt, und hatte auf die ersten beiden Erdhügel gezeigt.

„Die Lore“, er schnäuzte ins großkarierte Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn, auch wenn es nicht heiß war und zeigte auf das dritte Grab, „die Lore haben sie in Torgau, wo sie in Stellung war, aus der Elbe gezogen. Die Russen, Kind, die Russen!“

Viel Platz hatte das Dorf Selbstmördern nicht gelassen. Schließlich sollte ein breiter gepflegter Grasstreifen als sichtbare Trennung zu den ordentlich Gestorbenen erhalten bleiben. Selbstmörder hatten im Dorf keine Chance auf sonnige Ewigkeitsruhe.

Rechts zur Dorfstraße hin hatte ein tief herunterhängender Apfelbaum sein dichtes Wurzelwerk weit in den Kirchhofboden getrieben.

Die Schaufel von Toten-Karl blieb ständig hängen. Weiträumig hatte er die Fläche um den Apfelbaum zur gräberfreien Zone erklärt.

Kein Bauer ließ sich dort begraben.

„Für uns Flüchtlinge ist es gut genug.“, schimpfte Toten-Karl, der Ulrike lange Geschichten vom Glatzer Ländchen erzählte. „Kind, wenn das Wetter gut war, konnten wir bis ins Altvatergebirge sehen.“ Und sein Taschentuch trat in Aktion.

Spät im Jahr, wenn alle Apfelbäume geplündert standen, trug der Friedhofsbaum dunkelrote glänzende Äpfel.

Keiner im Dorf wagte es, auch nur einen der Äpfel anzurühren, geschweige denn zu essen. Selbst vor den Flüchtlingskindern blieben sie verschont.

„Totenäpfel“, nannten sie die Leute. Nur Ulrike kannte keine Bedenken und hatte sich oben auf dem Kirchturm neben dem Uhrgehäuse einen schönen rotbäckigen Vorrat davon angelegt. Ulrike liebte das abendliche, verbotene Milchholen, kein Mensch weit und breit und mit den Toten stand sie auf du und du.
Toten-Karl war ihr besonderer Freund.

Wieder einmal hockte sie auf einem dicken, roh gehobelten Brett, das über der halbfertigen Grube lag. Bis zur Gürtelschnalle stand Toten-Karl im halbfertigen Grab. Er wuchtete die Erdbrocken nach oben, fluchte über Wurzeln und Knochenreste, an denen der Stahl seiner Schaufel abprallte. Er trug eine dicke, schmutzige Jacke, aus deren tiefen Taschen er ab und an sein bunt kariertes Taschentuch zog, um sich das Gesicht abzuwischen.

Nach jedem Fluch wechselte die Schaufel in die linke Hand. Mit schrägem Blick zum Kind bekreuzigte er sich und schaufelte schnell weiter bis zum nächsten Fluch. Herrliche Wortungetüme mit fremdem Akzent, Worte, die das Kind als etwas Verbotenes tief in sich versteckte, tief, aber abrufbereit.

„Warum fährst du so mit der Hand an dir herum“, fragte sie Toten- Karl. Er stand in seiner Grabgrube und schüttelte missbilligend den Kopf.

„Ihr Protestanten seid schon arm dran. Nicht die einfachsten Sachen wisst ihr.“ Er hob das Kind vom Brett zu sich ins Grab und flüsterte ihm zu: „Wenn man flucht, muss man den Fluch wieder bannen, sonst sitzt einem der Teufel im Genick. Deshalb muss ich mich bekreuzigen. Euch Protestanten würde das auch nicht schaden!“

Gelassen winkte Ulrike ab: „Auf dem Kirchhof kannst du fluchen, soviel wie du willst. Hier hält es kein Teufel aus. Schau mal, so viele Kreuze auf den Grabsteinen, dort, die Kriegsgräber, nur Holzkreuze. Hier traut sich kein Teufel her.“

Karl sah wenig überzeugt um sich, bekreuzigte sich und versenkte lautstark seine Nase ins Taschentuch. Er setzte das Kind wieder auf das Brett und fuhr sich vorsichtshalber gleich zweimal über den Körper.

„Keine Angst!“ Ulrike streichelte seine wattierte Schulter. „Bei mir bist du sicher. Ich bin Protestant, zu mir kommt kein Teufel.“

Karl wischte sich den Schweiß von der Stirn und fingerte am obersten Knopf seiner Jacke.

„Na, vielleicht hast du recht“, brubbelte er, „aber jetzt ist mir richtig warm geworden als säße der Gottseibeiuns schon neben mir. Ich muss die Jacke aufmachen, aber bloß nicht ausziehen. Voriges Jahr, weißt du noch, voriges Jahr um diese Zeit habe ich das Grab für die Huhle-Minna geschaufelt. Ich zog die Jacke aus und siehste …! Mit der Lungenentzündung hab ich knapp bis Weihnachten gelegen. Ich hol mir auf dem Kirchhof noch mal den Tod. Und du sagst, hier traut sich der Teufel nicht hin. Komm“, er schlug die Schaufel in die Erde, „machen wir Frühstückspause.“ Umständlich arbeitete er sich aus dem Grab, klopfte mit schmutzigen Fingern den Dreck von derJacke, schnipste einen kleinen Knochen weg, der sich in er Hosenfalte versteckt hatte, und holte die abgegriffene Ledertasche, die am rot leuchtenden Apfelbaum lehnte.

„Bring mir einen Apfel mit“, rief ihm Ulrike hinterher, „da, den direkt über deinem Kopf, der wird schmecken.“

Kopfschüttelnd kam Toten-Karl zurück, gab Ulrike mit vielen Kreuzen versehen den Apfel. Nun saßen sie beide auf dem Brett und baumelten mit den Beinen im Grab.

„Guck mal, dort liegen auch noch Knochen. Bringst du sie mir nach dem Essen? So einen habe ich noch nicht“, meinte Ulrike.

„Knochen gehören begraben“, sagte Totengräber Karl belehrend und öffnete seine Tasche.

Eine große verbeulte Zinkdose kam zum Vorschein.

„Willst du nicht lieber ´ne Bemme von mir essen? Schau mal, mit Wurst, Bauernwurst. Ist noch von der Beerdigung der Kotte-Bäuerin. Meine Alte lässt mich nicht hungern. Sie ist zwar auch protestantisch, aber Essen hält Leib und Seele zusammen. Das habe ich ihr gleich am Anfang unserer Ehe beigebracht. Nimm eine, es ist genug für uns beide, du Hänfling.“

Herzhaft bissen sie in die Brote.

„Wo versteckst du eigentlich die Knochen?“, fragte Toten-Karl kauend und schob Ulrike ein Rädel Extra-Wurst zwischen die Lippen.

„Oben auf dem Kirchturm. Hinter der dritten Treppe ist so ein kleiner Raum, dort findet sie niemand.“ „Hast du keine Angst?“

„Warum? Ich sammle, bis ich alle Knochen zusammen habe. Einen Kopf brauche ich dringend, dann machst du eine Grube an der Mauer bei den Selbstmördern, und wir legen sie richtig hin. Ich singe ‚So nimm denn meine Hände‘, Vaterunser, Segen und du schaufelst das Grab zu.“ „Aber warum wollen wir die Knochen noch einmal beerdigen?“

Ulrike wischte ihre Wurstfinger an Toten-Karls Jacke ab, polierte ihren Apfel an seinem Ärmel und zeigte um sich.

„Schau mal, überall auf den Grabsteinen steht ‚Ruhe sanft‘, ‚Ruhe bis in alle Ewigkeit‘ und du?“ Ulrike schaute strafend zu ihm hoch. „Du buddelst sie immer wieder aus. Da musst du dich nicht wundern, wenn dein Teufel hinter dir her ist. Bei den Selbstmördern hätten sie ihre Ruhe bis in die Ewigkeit. Dort gräbst du nie. Hast du etwa Angst? Sag mal, Toten-Karl, als Katholischer, bist du gläubig oder abergläubig?“

Toten-Karl schüttelte nur den Kopf, besah sich den Brotrest in der Hand und kaute hörbar.

Auf der Stirn des Kindes ritzte sich eine tiefe Falte ein.

„Du, Toten-Karl, da liegen dann im Grab der Kopf von dem, ein Unterbein von dem, das andere von einer Frau, das gibt aber ein Durcheinander bei der Auferstehung. Na, Gott wird sich das schon sortieren.“

Beruhigt biss Ulrike in den Apfel.

„Wie du wieder redest.“

Karl schlug vorsichtshalber ein Kreuz über ihrem Kopf.

„Manchmal denke ich, du bist eine Hexe. Nur die Äpfel sind schuld, die vermaledeiten! Guck doch!“

Sein schmutziger Finger deutete den Stamm entlang zu den unter Herbst nassem Gras verborgenen Wurzeln.

„Die Wurzeln sind lang, werden dünner und dünner, verzweigen sich. Und diese kleinen Wurzeln, ganz viele, so dünn wie deine Haare, saugen aus den Toten“, er machte eine ausholende Geste über die Gräber, „den Saft heraus und bringen ihn“, sein schmutziger Zeigefinger ging den gleichen Weg zurück, „zu den Äpfeln. Und der Totensaft macht die Äpfel von außen rot wie Blut, von innen weiß wie Schnee und …“

„Und was ist schwarz wie Ebenholz?“, fragte das Kind pfiffig blinzelnd dazwischen und warf den Apfelgriebsch ins Grab.

„Ach, bring mich nicht durcheinander. Totenäpfel isst man nicht! Basta!“

Mit einem ungelenken Sprung stand er wieder im Grab.

„Toten-Karl, bei uns sagt man am Schluss immer ‚Amen‘. Kennt ihr Katholischen das nicht?“

Er schaute hinauf zu Ulrike, stützte sich auf den Schaufelstiel und meinte nachdenklich: „Vielleicht bist du wirklich eine Hexe, du brauchst das. Du lebst vom Saft der Toten und selbst der Teufel macht um dich einen Bogen.“

Hastig schlug er das Kreuz.

Mit einem kräftigen Ruck zog er die Schaufel aus der Erde. „Hopp, lauf, ich muss hier fertig werden, schließlich soll der Jäckel-Franz, morgen unter die Erde. Ich würde ihn hier nicht beerdigen, unter all den Christenmenschen. Er ist einer von den neumodischen Kommunisten, früher das Maul gehalten, jetzt reißen sie es umso größer auf. Da krieg ich vielleicht eine Wut.“ Im hohen Bogen flogen die Erdbrocken aus dem Grab. Ulrike sprang beiseite. Beinahe hätte sie ein langer oben abgerundeter Knochen getroffen.

„Toten-Karl, guck mal, so einen habe ich noch nicht.“ Sie hielt ihn prüfend an ihren Arm, an ihr Bein. Er stützte sich auf seine Schaufel. „Bald gibt es keine Knochen mehr. Die Kommunisten lassen sich verbrennen, die Asche kommt in einen kleinen Topf und wird irgendwo verbuddelt. Die Kirchen wollen sie ja abschaffen, das soll der Jäckel-Franz auf der letzten Gemeinderatswahl gesagt haben. Nun ist er tot. Strafe muss sein.“

„Aber wie geht das mit der Auferstehung, so ganz ohne Knochen?“

Toten-Karl winkte ab: „Wenn sie nicht an Gott glauben, muss Gott sie auch nicht lebendig machen. Das Krematorum, oder wie das heißt, da, wo sie verbrannt werden, das ist wie ein Fegefeuer auf Erden und dann schnurstracks in die Hölle mit dem Kommunistenpack.“ Toten-Karl schnäuzte laut, bekreuzigte sich und fragte: „Habt ihr Protestanten auch Fegefeuer und Hölle?“

Er wartete die Antwort nicht ab, drückte ihr einen kleinen gebogenen Knochen in die Hand.

„Vom Brustbein“, nickten beide fachmännisch.

„Also lauf, du Hexe.“

Zögerlich kam es: „Aber iss nicht so viele Totenäpfel.Kind, ich mein‘s doch gut!“

Ulrike steckte die Knochen unter ihre Jacke und hüpfte über den Hügel der Müllerschen in Richtung Kirche.

Hinter ihr ertönte aus dem Grab ein kräftiges „Amen“.